Hannua wachte auf, weil sie Bewegung um sich her vernahm. Irgendwo im Raum tuschelte jemand. Blinzelnd schlug sie die Augen auf. Durch das Fenster fiel schwaches Nachtlicht in die Kammer.
Sie erinnerte sich, wo sie war. Die Abtei. Nervosität kam in ihr auf, als sie an den bevorstehenden Tag dachte. Die beiden Airanej von gestern waren auf den Beinen und kleideten sich an. Hannuas Nachbarin stand ebenfalls auf. Nach einer Weile ertönte draußen wieder die Glocke.
Hannua setzte sich auf und sah sich um. Außer ihrem neuen Gewand lag noch ein Satz Kleidung am Fußende ihres Bettes - eine weite Hose mit einem Stoffgürtel und ein ärmelloses Oberteil aus grauem Leinen. Neugierig betastete sie die Kleider. Sie fühlten sich gut an.
Ein Blick in den Raum zeigte ihr, dass die anderen die grauen Hosen und Oberteile anlegten. Eine von ihnen betrachtete sich prüfend im Spiegel, während eine andere hinter ihr ihr Haar bürstete.
Hannua hörte den Vorhang leise klirren, als eine zierliche Hand ihn beiseite schob. Dahinter kam die Gesegnete Myriaris zum Vorschein.
"Guten Morgen", grüßte sie mit ihrer sanften Stimme. "Habt ihr gut geschlafen?"
Die Airanej bejahten.
"Zieht euch die Doreis an. Ihr bekommt heute Morgen eure Weisung. Auf dem Tisch findet ihr Haarbänder. Bindet euch die Haare zusammen."
Es entstand ein kleines Gedrängel vor dem Spiegel, als die Airanej eilig ihrer Anweisung folgten.
"Seid ihr komplett?"
Die Airanej sahen sich an.
"Hairi Myriaris", sagte eine zittrige Stimme aus dem unteren Schlafabteil. Monei.
"Iannyce. Sie wacht nicht auf."
Mit aschfahlem Gesicht zeigte Monei der Gesegneten das Bett von Iannyce.
Myriaris trat heran und schob behutsam den Vorhang vor dem Bett beiseite.
"Iannyce?", fragte sie leise. Von ihrer Position aus glaubte Hannua zu sehen, wie Iannyce auf dem Rücken lag. Sie bewegte sich unruhig und murmelte etwas - als hätte sie einen Albtraum.
Myriaris griff vorsichtig nach ihrer Hand - die andere Hand legte sie sanft auf ihre Stirn. Iannyce wachte nicht auf, doch nach einem kurzen Moment bleib sie ruhig auf dem Rücken liegen und ihr Atem wurde ruhiger. Myriaris nickte, ließ sie los und zog sanft den Vorhang zu.
"Kein Grund zur Sorge", sagte sie leise. "Sie befindet sich in Somniam. Sie wird ihren Weg finden. Ihr habt versucht, sie gewaltsam zu wecken, nicht wahr?"
Monei schwieg betreten. "Ich bin erschrocken, weil sie nicht aufwachte, und hab sie geschüttelt", gab sie dann zu.
"Deshalb hat sie Albträume bekommen. Macht das nicht. Wenn sich jemand in Somniam verirrt, lassen wir sie schlafen. Das kommt vor. Kommt!"
Sie führte die Airanej, die unruhige Blicke zurück zu Iannyce warfen, hinaus auf den Hof.
"Geht es ihr denn gut?", fragte Monei. Sie wirkte nicht überzeugt.
"Ja", sagte Myriaris. "Ich hab ihr die Unruhe genommen. Sie wird nun wieder in einen friedlichen Traum finden."
"Ist es normal, dass jemand einfach nicht aufwacht?", fragte eine der anderen, nicht minder beunruhigt.
"Den Wechsel zwischen Schlaf und Wachsein - wir nehmen ihn als selbstverständlich hin", erklärte Myriaris. "Dabei ist der Übergang von einer Sphäre in die Andere alles andere als einfach. Manchmal hält uns etwas davon ab, überzuwechseln - und wir verharren im Wachsein oder im Schlaf. Hier, Sirelle - zum Haus Loradins!”
Die Airanej, die voraus gegangen war, machte kehrt und folgte ihnen die kleine Treppe am Felsen hinab. Hier, auf einem Vorsprung, befand sich ein kleineres, rundes Haus.
"Ist es denn nicht schlimm, wenn sie den Unterricht verpasst?"
"Weniger schlimm als jemanden gewaltsam dem Traum zu entreißen. Das kann ihrem Geist schaden. Wenn eure Stimmen und die Glocke sie nicht ins Wachsein zurückholen, dann, weil sie den Weg nicht finden kann."
"Aber was, wenn sie… gar nicht aufwacht?", fragte Monei ängstlich.
"Sie wird früher oder später aufwachen. Aber es ist gut, dass ihr euch sorgt. Es kann vorkommen, dass jemand sich in seinen Träumen verliert - dann werden wir sie suchen. Sie könnte in Schwierigkeiten sein."
"Sie suchen?"
Myriaris nickte. "Ja. Wenn sie bis zum Unterricht morgen nicht aufwacht, gebt mir Bescheid. Tretet ein. Die Hairi Liryam erwartet euch.”
Ihre Lehrerin war eine Frau mittleren Alters mit bronzefarbener Haut und einer erhabenen Miene, die Hannua irgendwie einschüchternd fand. Sie trug gelblich weiße, weite Leinenkleidung ähnlich der der Airanej und einen Gürtel aus dunklem Stoff. Ein weiß gemustertes Haarband band ihr langes, krauses Haar zurück, das rötliche und grünliche Strähnen hatte. Hannua fielen ihre markanten, spitzen Ohren auf.
Die Hairi wies die Mädchen an, die Schuhe an den Eingang zu stellen und sich in dem runden Raum zu verteilen. Dann zeigte sie ihnen verschiedene Positionen, die sie einnehmen sollten und die ihre Muskeln dehnten und anspannten.
"Warum müssen wir das machen?", fragte eine von ihnen leise. Ihre Nachbarin zuckte die Schultern.
"Weiß nicht. Aber die anderen sagen, es ist gut."
"Ihr sollt die Idee lernen. Und dann in Zukunft selber entscheiden", erklärte die Hairi. Ihr Art, zu sprechen, verriet, dass sie jemand war, den man auf Naiennis eine Reisende nannte. "Ihr könnt mit den Formen den Tag beginnen oder euch auf die Elemente für die Wunder einstimmen. Oder ihr nennt es verlorene Zeit macht es nicht." Sie nahm ihren Stab in die Hand.
"Der Falke!", rief sie, winkelte ihr Bein an und und streckte den Stab aus. Die Airanej ahmten sie unsicher nach.
Nachdem sie etwas gegessen hatten, stellte sich eine Hairi am Durchgang zum Speisesaal auf und winkte sie zusammen.
"Hairi Sahrea", flüsterte Monei Hannua zu.
Die Hairi hatte langes, dünnes Haar, was sie im Nacken zusammen gebunden hatte, und ein ernstes Gesicht. Sie trug einen grauen Rock und eine weite, weiße Bluse mit dunklen Bändern an den Säumen, die goldene Verzierungen trugen.
"Ihr zieht euch um, holt eure Instrumente und dann kommt ihr zum Tempel und bereitet euch vor. Die Suyam beginnt zur Mittnacht. Spielt euch gut ein und wiederholt euren Schwur."
Dann erblickte sie Hannua.
"Ah. Die Neue, richtig?"
Hannua nickte. "Ja."
"Wie heißt du?"
"Hannua."
"Du wartest hier auf mich. Wir werden dein Instrument auswählen."
Monei nickte Hannua aufmunternd zu. Dann folgte sie der Hairi hinaus.
Hannua sah ihr nach, auf einmal selbst nervös. Ihr Instrument auswählen? Was meinte die Hairi damit?
Sie beobachtete, wie sich der Saal leerte. Die Airanej unterhielten sich aufgeregt und lachten albern. Dann zerstreuten sie sich. Eine Airanej in einer Schürze überprüfte die gespülten Schalen und begann, die übrigen Speisen aus dem Raum zu tragen.
Hannua wartete gehorsam. Schließlich kam die Hairi zurück.
"Folge mir", wies sie Hannua an.
Sie führte sie in den Ostflügel des Gebäudes.
"Hier sind die Übungsräume", erklärte sie. "Hier wirst du Musikunterricht haben."
Am Ende des Ganges befand sich eine Tür. Die Hairi legte die Hand dagegen, dann schob sie die Tür zur Seite in die Wand hinein.
"Hier befinden sich unsere ungenutzten Instrumente", erklärte sie, während sie eintraten. "Sie sind unglaublich wertvoll. Sei vorsichtig und respektvoll mit allem, was du anfasst."
Es war ein kleiner Raum und es roch nach alter Luft. Regale befanden sich überall entlang der Wände, vor denen schwere, samtene Vorhänge bis auf den Boden hingen.
"Warum wählen wir denn ein Instrument aus?", fragte Hannua vorsichtig. "Ich habe ja meine Flöte."
"Eine Inselflöte?"
"Ja."
"Das ist kein würdiges Instrument für die Abtei. Du wirst eines von Airans Instrumenten erlernen und Teil des Orchesters werden. Passt dir das nicht?"
"Doch… natürlich."
"Das sollte es auch. Es ist eine große Ehre."
Sie schob die Vorhänge zur Seite. Dahinter sah Hannua alle möglichen seltsamen Formen. Große, geschwungene Klangkörper aus poliertem, roten Holz. Bügel. In der Reihe darüber sah sie metallische Trichter in verschiedenen Größen. Auf dem Boden befanden sich runde, hölzerne Kübel, die mit etwas wie Leder bespannt waren.
Die Hairi schob einen schweren, runden Hocker in die Mitte des Raumes.
"Setz dich."
Dann nahm sie eines der Instrumente aus dem Regal und gab es Hannua.
"Wenn du Flöte spielen kannst, dann ist das das richtige. Der Kalyr."
Hannua nahm es entgegen. Es sah aus wie eine schwere, dunkle Flöte, auf der Hebel und Klappen befestigt waren. Sie war sich nicht sicher, wie sie ihre Hände positionieren sollte.
"Hast du schon einmal den Kalyr gesehen?"
Hannua verneinte.
Die Hairi reichte ihr ein kleines Holzblättchen.
"Das wird in das Mundstück eingesetzt. Deine Lippe bringt es zum Schwingen, das erzeugt den Klang. Versuch es."
Sie ließ Hannua das Blättchen einsetzen. Dann führte Hannua das Instrument vorsichtig an die Lippen und blies hinein. Sie hörte, wie Luft durch das Instrument strömte, aber kein Ton kam heraus. Sie versuchte, ihre Position zu verändern. Das Instrument fühlte sich schwer an ihren Händen an und die Klappen irritierten sie. Sie blies stärker - doch anstatt einem Ton ertönte ein ohrenbetäubendes Quietschen. Erschrocken setzte sie ab.
Die Hairi schüttelte den Kopf und nahm ihr das Instrument aus den Händen.
"Nicht das richtige", entschied sie. "Wir versuchen ein anderes."
Sie reichte Hannua ein gebogenes, metallisches Instrument mit einem silbernen Trichter, doch Hannua hatte es kaum an die Lippen gesetzt, als sie es ihr schon wieder abnahm. Sie reichte Hannua ein Streichinstrument, was sie nicht zum Klingen bringen konnte, dann eine kleine Spindel, die sie ratlos entgegen nahm und in den Händen drehte. Schließlich gab sie ihr eine kleine Harfe in die Hand. Nichts, was Hannua versuchte, stellte die Hairi zufrieden und ihr Kopfschütteln demotivierte Hannua, bis sie einen dicken Kloß im Hals hatte. Sie wünschte, die Hairi würde ihr mehr Zeit mit den Instrumenten geben, bevor sie ihr Urteil fällte. Sie wünschte, sie würde sie allein lassen, anstatt sie ungeduldig zu beobachten. Aber vielleicht hatte die Hairi ja Recht. Vielleicht waren diese Instrumente wirklich nicht das richtige für Hannua.
"Die Dame ist ziemlich anspruchsvoll…", murmelte die Hairi.
Hannua dachte, dass vielleicht nicht sie es war, die anspruchsvoll war. Frustriert starrte sie auf ihre Füße. Dann sah sie etwas aus dem Augenwinkel. Verblüfft sah sie auf. Dort unten im Regal… bewegte sich etwas. Eine Fee?
Sie ging in die Hocke und spähte hinein. Eine Sammlung von dünnen, runden Bürsten und Lappen. Keine Fee. Nichts, was sich bewegte. Dann fiel ihr ein schmales Bündel ins Auge. Etwas war in ein Tuch eingeschlagen. Neugierig streckte sie die die Hand danach aus.
"Nichts anfassen ohne Erlaubnis", fuhr die Hairi sie an.
"Was ist das denn?", fragte Hannua.
Die Hairi trat zu ihr, nahm das Bündel heraus und betrachtete es nachdenklich.
"Die Lyasienne", sagte sie dann erstaunt. "Ich hatte keine Ahnung, dass sie hier ist."
Sie wickelte ein Instrument aus dem Tuch aus, was aussah wie eine schmale, lange Flöte mit einer kleinen, kunstvollen Erweiterung am unteren Ende. Sie reichte sie Hannua.
"Sei vorsichtig damit. Das ist ein altes und schwieriges Instrument."
Hannua befühlte die glatte, dunkle Oberfläche. Es mochte Holz sein, vielleicht aber auch nicht. Durch das Material zog sich ein unregelmäßiges, grünliches Streifenmuster. Hoffnungsvoll setzte sie sie an die Lippen. Doch alles, was sie hörte, war der hohle, heisere Klang ihres Atems in dem Instrument, bis sie vor Anstrengung Kopfschmerzen bekam und ihr schwindlig wurde.
Frustriert setzte sie ab, Tränen der Enttäuschung in ihren Augen.
Warum? Warum kann ich es nicht spielen…?
"Wie auch immer", sagte die Hairi schließlich. "Ich muss zur Suyam, oder die ganze Abtei wartet auf mich. Wir müssen uns entscheiden."
Sie streckte die Hand nach dem Instrument aus.
Hannua umklammerte es.
"Ich möchte dieses hier spielen."
Die Hairi sah sie mit hochgezogener Braue an.
"Die Lyasienne ist ein sehr schwieriges Instrument. Ich glaube nicht, dass das eine gute Wahl ist, wenn du sogar mit dem Kalyr Schwierigkeiten hast. Das wird dich nur frustrieren."
Hannua betrachtete den schweren Kalyr mit seinen metallischen Klappen, die sich nicht gut an den Fingern anfühlten. Sie mochte die Lyasienne, ihr Gewicht, die Abrundung über den Tonlöchern.
"Ich will es versuchen."
Entschlossen wischte sie sich die Tränen aus den Augen.
Die Hairi seufzte. Dann nickte sie.
"Gut. Die Lyasienne. Ich werde dich unterrichten. Geben wir dir ein paar Wochen Zeit und sehen, ob du mit Airan in irgendeinen Dialog treten kannst."
Sie nahm Hannua das Instrument aus den Händen.
"Ich lasse sie und ihren Koffer für dich herrichten. Du bekommst sie morgen zu unserer ersten Unterrichtsstünde. Jetzt müssen wir uns aber beeilen."
Sie legte die Instrumente zurück und schloss die Vorhänge. Dann machte sie sich eiligen Schrittes auf zum Tempel.
Hannua folgte ihr mit einer Mischung aus Erleichterung und Sorge. Sie hoffte, dass sie die richtige Wahl getroffen hatte. Dass Airan sie akzeptieren würde, so wie er Monei akzeptierte.
Als Hannua hinaus auf den Osthof trat, wehte der Wind ihr von fern einen leisen, melodischen Glockenklang entgegen. Sie erinnerte sich, dass sie irgendwo die Worte Airans Gesang aufgeschnappt hatte. Airanej schlenderten den langen Säulengang entlang, der wie ein Steg die Hauptinsel mit dem Tempel verband, dessen eindrucksvolle Silhouette sich in der Ferne vor dem Nachtlicht abzeichnete. Der Schein der Laternen unter dem Baldachin fiel auf ihre kunstvollen Frisuren, ihre Gewänder und die eleganten, langen Tücher, die sie um ihre Schultern trugen.
"Eine neue Airanej. Im Dorei zum Tempel… "
Jemand war neben sie getreten. Eine alte Frau. Über ihrem silbergrauen Haar trug sie ein gefaltetes, schwarz und weiß gemustertes Kopftuch. Sie trug einen langen, grünen Rock und um ihre Schultern eine fransige Decke. In einer Hand trug sie einen langen, mit Schnitzereien verzierten Stab, auf den sie sich stützte.
Verlegen sah Hannua an sich herab. Sie hatte nicht daran gedacht, dass sie ja immer noch ihren Dorei trug.
"Komm, Mädchen", sagte die Fremde. "Wir sind spät dran, ich bin langsam, und der Weg ist lang."
Sie griff Hannuas Hand und schritt zielstrebig in den Säulengang. Kühler Wind schlug ihnen entgegen, und Hannua fröstelte. Ihr Kopf fühlte sich noch immer benebelt an von der fordernden Stünde mit den Instrumenten.
"Der Tempel und dieser Steg sind wahre Wunderwerke. Niemand in der Abtei könnte heute so etwas errichten. Aber unsere Vorfahren… sie hatten Talente. Und sie haben ihr Leben und ihr Können Airan gewidmet."
Hannua sah, dass sich eine der Airanej vor ihnen zu ihnen umsah. Sie grinste, dann schloss sie eilig zu ihrer Freundin auf.
"Jemanden, der Kunstwerke aus Stein errichtet, nennt man Steinformer", fuhr die alte Frau fort. "Es war ein seltenes Talent. Die Steinformer hatten ein Gespür für das Gleichgewicht der Kräfte, die die Erde und den Himmel zusammen halten. Aber um so etwas hier zu errichten, brauchte es mehr als Gespür. Es brauchte jahrelanges Studium, Fleiß und Köpfchen. Es war die Ehrenwerte Mairem, die die Vision hatte, eine Brücke zwischen dem alten Tempel und der Hauptinsel zu errichten. Denn mehr und mehr Lyriu wurden ohne Flügel geboren. Wusstest du, dass wir einst ein geflügeltes Volk waren?"
Hannua schüttelte den Kopf. "Nein."
"Mairem erkannte, dass wir, wenn wir Airan weiterhin die Ehre erweisen wollten, die er verdiente… die Talente nutzen mussten, die er uns schenkte. Der Tempel sollte wieder für alle Airanej erreichbar sein. Das größte Problem waren die verschiedenen Bewegungen der beiden Inseln, die jede Brücke sofort zerstören würden. Eine Generation von Lyriu hatte nach Möglichkeiten gesucht, die Bewegungen der Inseln zu kontrollieren. Mairem schließlich hatte Erfolg. Sie kalibrierte die Kraftsteine der Hauptinsel und des Tempels… so gelang es ihr, ihre Bewegungen zu synchronisieren. Dann konnte sie mit dem Bau der Brücke beginnen."
Sie blieben stehen und sahen zum Tempel hinüber. Das Klingen war nun deutlich zu hören. Es schien von einem großen Windspiel zu kommen, was in der Spitze der riesigen Kuppel des Tempels tanzte.
"Doch das allein reichte nicht aus", fuhr die Fremde fort und setzte sich wieder in Bewegung. "Sie brauchte eine Brücke, die flexibel genug war, um kleine Verschiebungen aushalten zu können. Also unterteilte sie die Brücke in drei Segmente. Dazwischen fügte sie diese beiden kleinen Plattformen ein wie ein Gelenk. Deshalb ist die Brücke nicht gerade. Sie verschiebt sich, abhängig von der Position des Tempels. Es ist genial."
Sie erreichten den Tempel und die alte Frau sah zurück zur Hauptinsel. Dort glommen die Lichter der Abtei. Am Himmel in der Weite sah Hannua das Auge Airans, rund und strahlend in weiß und blau.
"Mairem lebte hier vor dreihundert Jahren. Doch ihr Wunder besteht fort…. Und sie war ein Mensch - wie du. Auf den Inseln geboren, in der Abtei geduldet, aber zweitklassig behandelt… war es ein Mensch, der unsere Probleme löste. Der Airan seine Ehre zurückbrachte. Das können wir niemals vergessen. Auch wenn einige von uns das gerne würden. Die Menschen, bei all ihren Fehlern… bei all unseren Fehlern. Wir sind Airans Kinder. Die Lyriu und die Menschen. Wenn die einen die anderen geringschätzen, dann geringschätzen wir uns selbst. Und untergraben unsere vereinten Kräfte. Die so wichtig für uns waren - und noch immer sind."
Sie wandte sich an Hannua.
"Du hast nicht viel von dem verstanden, was ich erklärt habe, hmh?"
Hannua grinste verlegen.
"Macht nichts", fuhr die Alte fort. "Das wichtige ist, dass du den Einsatz unserer Vorfahren würdigst. Und dass mir nicht langweilig ist. Wie heißt du?"
"Hannua."
"Hast du irgendeine Ausrede oder bist du allein?"
"Eine Ausrede?", fragte Hannua verblüfft. "Wofür denn?"
"Perfekt. Komm mit mir. Du kriegst heute einen Ehrenplatz."
Sie griff Hannua wieder bei der Hand und führte sie mit sich.