Hannua sah am Tempel empor. Er war das kunstvollste Gebäude der Abtei, das sie bisher gesehen hatte. Durch die Reihe äußerer Säulen trat man unter die große, bunte Kuppel, die die Lichter darunter in bunten Farben reflektierte. Sie folgten den Airanej durch den Eingang und stiegen die Treppe hinab.
Der Tempel war im Innern so erstaunlich wie von außen. Kunstvolle Stege aus Marmor und Glas führten über die Tiefen hinab zur gemusterten Plattform in der Mitte des Tempels - vielleicht eine Art Bühne? - und hinauf zu den höher gelegenen Alkoven. Dort glaubte Hannua, Formen und Figuren zu erkennen. In einer großen, hohen Kanzel an der gegenüberliegenden Seite des Tempels erstreckte ein großes Gebilde seine Flügel hinauf zum Kuppeldach. Pflanzen mit großen Blättern wuchsen aus den Säulen und Wänden heraus. Aus einem der Alkoven fiel ein dünner Schleier von Wasser in die Tiefe und verlor sich im gräulichen Nachtlicht.
Die Airanej - es mochten dreißig sein oder mehr - sammelten sich auf dem Säulenbogen, der die Bühne umgab, und ließen sich dort nieder.
Doch die alte Frau führte Hannua nicht die Treppe hinab zu den anderen, sondern den seitlichen Rundweg entlang zu einer Empore.
"Sei so gut und bring mir ein Kissen, Mädchen. Bring zwei."
Hannua sah sich um, erspähte einen Stapel von runden Bambus-Kissen und nahm sich zwei. Ihr Blick fiel auf die anderen Gestalten, die sich über die Empore verteilt niederließen. Es waren die Hairi, in ähnlichen Kleidern wie die Hairi Sahrea. Ihr Blick fiel auf eine Frau in dunkler Robe und Kopftuch, die sich mit ihrer Nachbarin unterhielt. Ihr Anblick bereitete ihr eine Gänsehaut und sie sah eilig fort.
Auf der anderen Seite der Empore saß jemand auf den steinernen Stufen, allein. Hannua sah einen Schopf kinnlangen, blonden Haares und die Bügel von Augengläsern. Die Person trug ein schlichtes Hemd und hatte ein Buch auf dem Schoß. Sie sah auf und strich sich ihr Haar in den Nacken.
"Kommst du, Mädchen, oder willst du eine alte Frau stehen lassen?"
Hannua fuhr zusammen und eilte zurück zu ihrer Begleiterin. Diese platzierte die Kissen auf der Stufe, setzte sich auf eines und bedeutete Hannua den Platz an ihrer Seite.
"Xalthesys. Die Priesterin", erklärte sie und deutete auf die Frau in der dunklen Robe. "Vielleicht bist du ihr schon begegnet?"
Hannua dachte zurück ihre Begegnung mit der Priesterin auf Naiennis. Sie hatte sie ganz anders in Erinnerung.
"Hairi Neiroa", fuhr die Alte fort und deutete auf die Person neben der Priesterin. "Mit Schwäche geboren, mit Güte und Köpfchen gesegnet. Ich habe sie unterrichtet. Naja. Ich habe es versucht. Heute unterrichtet sie meine Fächer. Besser als ich, heißt es…"
Die Alte nannte die anderen Hairi bei Namen, die sich Hannua unmöglich merken konnte.
Hannua beobachtete die Airanej unterhalb von ihnen. Sie fühlte sich verlegen und gleichzeitig stolz, hier oben bei den Hairi zu sitzen. Von weit über sich hörte sie nun den leisen Klang des merkwürdigen Windspiels.
"Wo bleibt denn Myriaris…?", murmelte die Alte schließlich. "Das sieht ihr gar nicht ähnlich, zu spät zu kommen."
Hannua erinnerte sich plötzlich.
"Myriaris. Sie wollte bei Iannyce bleiben. Iannyce ist heute nicht aufgewacht."
Die Alte runzelte die Stirn. "Eine der jungen Airanej ist in Somniam? Merkwürdig…"
Sie wirkte nachdenklich, sagte aber nichts mehr.
Dann sah Hannua eine Bewegung, unter ihnen auf der Bühne. Eine Gestalt schritt über den Platz und ließ drei Laternen aufleuchten - eine weiße vorn und zwei farbige an den Seiten. Hannua glaubte, die Hairi Sahrea zu erkennen, mit der sie vorhin ihr Instrument ausgewählt hatte. Die Hairi sah auf und ließ ihren Blick über die Airanej schweifen. Um sie herum waren Musikinstrumente platziert. Sie breitete die Arme aus und das Getuschel ebbte ab.
"Willkommen. Willkommen zu unserer Suyam. Es ist immer ein besonderer Tag, eine besondere Freude, für uns alle, wenn wir eine neue Airanej in unseren Kreis aufnehmen."
Ihre Worte fühlten sich seltsam für Hannua an. Vielleicht, weil sie so wenig Freude von der Hairi gespürt hatte, als sie mit ihr die Instrumente durchgegangen war.
"Dieses Jahr sind vier neue Töchter zu uns gekommen", fuhr Sahrea fort. Sie machte eine ausladende Armbewegung. Um sie herum konnte Hannua nun vier weitere Gestalten sehen. Eine davon war Monei. Die Laterne warf einen orangenen Schein auf ihr Gesicht. Neben ihr stand die Airanej aus ihrer Kammer, mit der sich Iannyce gekabbelt hatte.
"Lasst uns beten", schloss Sahrea. "Möge Airan sie in Herzlichkeit empfangen."
"Warum hört sich das ganze von Sahrea so falsch an?", sagte jemand hinter Hannua. Dann setzte sich jemand auf die andere Seite von der alten Frau.
"Ich dachte, dass Myriaris die Ansprache hält?"
"Scheint, sie wacht über eine Airanej in Somniam."
"Eine Airanej in Somniam? Am Tag der Suyam?"
Die alte Frau nickte.
"Sie folgen Sahrea nicht. Nicht wirklich", stellte die Fremde mit einem Blick nach unten fest. Einige der Airanej hatten ihre Hände aneinander gelegt, wie es zum Gebet üblich war. Aber viele von ihnen rückten unruhig umher oder sprachen mit ihrer Nachbarin.
"Wir scheinbar auch nicht", kommentierte die Alte.
"Nein… wir auch nicht", bestätigte die Fremde.
Dann hörte Hannua einen Ton. Es war ein tiefer, wabernder Glockenton, der ihr eine Gänsehaut bereitete. Er erklang erneut und schien im Tempel ein seltsames Echo zu erzeugen. Der Ton klang aus, bis nur noch das leise Windspiel über ihr zu hören war.
Sie sah sich um. Hinter ihr, an der Seite der Empore, stand eine Person mit einem gemusterten Cape um die Schultern. Sie hatte einen großen Schlägel in der Hand, den sie mit sanfter Bestimmtheit gegen die Säule neben ihr führte und so den tiefen Klang erzeugte. Fasziniert lauschte Hannua, wie er im Tempel widerhallte. Sie konnte sechs dieser Säulen im Tempel sehen. Entweder täuschte ihre Sicht oder sie waren verschieden lang.
Der letzte Ton klang aus und die Airanej, die gebetet hatten, ließen die Hände sinken.
"Habt Dank", sagte Sahrea. "Lasst uns nun unseren Töchtern lauschen."
Sie sah zu den Airanej. Monei sah verlegen zu Boden. Die Airanej neben ihr atmete tief durch, dann trat sie vor.
"Mein Name ist Aeryn", sagte diese mit lauter Stimme, auch wenn sie etwas kurzatmig wirkte. "Ich komme aus Arjunsee. Ich spiele die Cynne."
Sie hob ihr Instrument, auf dem sie schon in ihrer gemeinsamen Kammer herumgezupft hatte, von einem Podest und zeigte es der Menge. Es erinnerte etwas an die Harfe, mit Saiten in verschiedenen Längen. Aber es war kleiner und offenbar wurde es waagrecht gespielt.
"Ich habe mir eine Melodie ausgedacht", fuhr Aeryn fort. "Sie heißt: Sternenlicht."
Sie platzierte es auf dem kleinen Tisch und setzte sich davor. Sahrea hob die Hand.
"Zorahwados?", rief sie und sah zur Kuppel empor. "Wärst du so nett? Unsere Airanej möchte spielen."
Niemand antwortete. Airanej sahen empor in die dunkle Kuppel. Es blieb still. Erstaunlich still. Das Windspiel, dachte Hannua. Es hat aufgehört.
Sahrea nickte. "Bitte sehr."
Aeryn zupfte ein paar Noten. Doch sie brach ab. Sie starrte auf ihre Finger und atmete noch einmal tief durch. Hannua glaubte, ihre Aufregung zu spüren. Ich will niemals dort unten stehen, dachte sie plötzlich. Ich könnte niemals hier vor allen spielen.
Doch Aeryn fing sich und begann erneut, langsamer. Es war eine einfache und schöne Melodie. Sie wiederholte die Melodie. Ihr letzter Ton klang aus und sie stand auf. "Für Airan", sagte sie und neigte den Kopf.
Hannua beobachtete, wie die Airanej unter ihr die Hände aneinanderlegten. Es war dieselbe Geste, die sie zum Gruß verwendeten, zum Gebet, oder, offenbar, um Anerkennung zu zeigen.
"Bemerkenswert", staunte die Fremde, die sich zu ihnen gesetzt hatte. "Kennst du die Airanej?"
"Ich hab von ihr gehört", antwortete die Alte.
Sahrea trat zu Aeryn und umarmte sie förmlich.
"Sei willkommen, Aeryn", sagte sie. Dann trat Aeryn in die Deckung der Säulen.
"Weint sie?", fragte die Fremde.
"Und du? Was machst du, wenn Sahrea dich umarmt, Ylsarah?"
"Das… ist schon lange nicht mehr passiert. Vielleicht noch nie."
Erstaunt beobachtete Hannua Aeryn. Sie verbarg ihr Gesicht im Schatten, doch Hannua glaubte, zu sehen, wie sie sich Tränen aus den Augen wischte.
"Anspannung und Ehrgeiz", sagte die Alte schließlich. "Sie hat viel zu lernen. Nicht nur über Musik."
"Wie wir alle", antwortete die Fremde namens Ylsarah. "Noch einmal Airanej sein, Dorea? Von vorn anfangen?"
Die Alte schielte zu Hannua herüber. "Ich glaub nicht", sagte sie dann. "Nicht ich."
Auf der Bühne breitete Sahrea wieder die Arme aus. Das Geplauder verstummte.
Aeryns Freundin war nach vorne getreten. Sie war groß und schlank und hatte ihr kinnlanges, dunkles Lockenhaar zurückgebunden, sodass es ihren langen Hals betonte. In der Hand hielt sie die Fidei - das kleine Streichinstrument, was Hannua vorhin ausprobiert hatte.
"Ich heiße Sirelle. Ich habe ein Abendlied einstudiert. Ich hoffe, bald im Orchester zu spielen. Und dass Airan mir meine Fehler verzeiht und mich akzeptiert."
Sirelle setzte die Fidei an ihr Kinn und spielte ihr Lied. Hannua fand es beeindruckend, wie gut sie das schwierige Instrument beherrschte. "Für Airan", fügte sie hinzu, als sie geendet hatte. Doch sie sah nicht ins Publikum und auch nicht zu Airan, wo immer er auch sein mochte. Sie sah zu Sahrea neben ihr. Hannua glaubte zu sehen, wie die Hairi kaum merklich nickte. Sie umarmte Sirelle und Sirelle trat zu Aeryn.
Die nächste, die in die Mitte trat, war Monei. Sie sah toll aus, mit ihrem weißen Gewand im bunten Licht der Laternen. Jemand hatte ihr ihr Haar gescheitelt und sorgfältig zu einem dichten, frischen Zopf gebunden.
"Ich bin Monei. Ich spiele die Cevya."
Sie schwieg und sah zu Boden.
"Ich hab vergessen, was ich sagen wollte", gestand sie dann. Einige Airanej und Hairi lachten und Monei errötete.
"Das macht nichts, Nej", rief Ylsarah hinab zur Bühne. "Spiel dein Lied!"
Monei sah in ihre Richtung. Hannua winkte ihr, aber sie war sich nicht sicher, ob Monei sie sehen konnte. Monei sah wieder zu Boden und setzte sich an das große Streichinstrument, was auf der Bühne stand. Sie hob den Bogen auf und begann, zu spielen. Ihre Töne waren sehr wacklig, doch sie ließ sich nicht beirren und spielte die Melodie, die sie gelernt hatte, bis zum Ende. Dann sah sie unsicher auf.
Die Hairi legten die Hände aneinander. Sie hat es geschafft, dachte Hannua und stimmte in den stummen Applaus mit ein. Sie sah Moneis Lächeln, als Sahrea sie umarmte, und spürte allen Stolz und alle Erleichterung für ihre Gefährtin. Gleichzeitig hatte sie einen schmerzhaften Knoten im Bauch bei dem Gedanken, dass sie eines Tages dieselbe Prüfung würde ablegen müssen.
Die vierte Airanej hatte Hannua noch nicht gesehen. Sie war dünn, hatte kurzes, helles Haar und wirkte sehr ruhig. Nur ihre weit aufgerissenen Augen sahen von hier nach dort und schienen alles in sich aufzusaugen.
"Ich bin Celyne. Die Abtei ist meine Heimat. Ich spiele für Airan das Elfenlied und möchte mir meinen Platz als Airanej verdienen."
Dann hob sie ihr Instrument. Es war eine perlweiße, lange und dünne Flöte, die sie seitlich an die Lippen legte. Ihre langen Finger tanzten scheinbar mühelos über das Instrument. Ihr Klang war wundervoll, fand Hannua.
"Ich hab sie nie spielen hören", sagte Ylsarah. "Sie ist jung für eine Airanej."
"Sie ist… speziell."
Ylsarah nickte. "Mit Sicherheit. Sie wird eine Hairi sein."
Celyne erntete Applaus, soweit Hannua blicken konnte. Einige der Airanej hielten ihre aneinandergelegten Hände über ihre Köpfe. Sie wirkten zutiefst beeindruckt.
Celyne verbeugte sich förmlich. Dann trat die Hairi zu ihr und umarmte auch sie.
"Sei willkommen, Celyne. Dein Platz als Airanej ist dir seit langem gewiss."
Sie wandte sich wieder an die Menge.
"Vier unserer Töchter haben heute ihren Platz bei uns gefunden. Widmen wir ihnen ein Gebet. Beten wir für die neue Kraft und den Zusammenhalt unserer Gemeinschaft."
Sie bedeutete den vier Airanej, noch einmal vorzutreten. Sie zeigte ihnen die aneinander gelegten Hände und sie erwiderten die Geste. Monei sah besonders stolz aus, dachte Hannua, wie sie da stand und lächelte. Sie hatte es sich verdient.
"Erinnern wir uns daran - jetzt und in Zukunft - dass wir Airans Auserwählte sind. Wir akzeptieren einander. Respektieren einander. Vergeben einander", fuhr Sahrea fort. "Lassen wir unsere Streitigkeiten hinter uns. Unseren Groll. Unseren Neid. Denn wir brauchen einander. Unser Geist mag oft blind sein, doch unser Herz weiß es. Öffnen wir uns für Airans Güte. Geben wir sie weiter. Sie ist unsere stärkste Kraft."
Dann hörte Hannua wieder den tiefen Klang der Säulen.
"Da hat sie Recht", sagte Dorea.
"Glaubst du, sie glaubt an das, was sie predigt?", fragte Ylsarah.
"Und du? Glaubst du an das, was du den Airanej erzählst?"
"Ich predige ja nicht", sagte Ylsarah. "Aus gutem Grund."
Wieder erklang die Säule und die beiden legten die Hände aneinander und stimmten, wie es schien, in das stumme Gebet mit ein.
Schließlich klang der letzte Ton aus und Sahrea hob die Arme.
"Habt Dank, alle zusammen. Geht mit Airans Segen."
Daraufhin kam Bewegung in die Menge.
"Wann kommen denn deine?", fragte Dorea. "Das ist nicht heute?"
Ylsarah schüttelte den Kopf. "Geduld, Dorea. Sie proben noch."
"Man hört ja so einiges", sagte Dorea.
Ylsarah erhob sich und half Dorea auf die Füße.
"Wer ist denn die Airanej im Dorei?", fragte sie dann und linste zu Hannua herüber, während sie den anderen Hairi zum Ausgang folgten. Hannua stieg die Röte ins Gesicht. Warum hatte sie nicht daran gedacht, sich umzuziehen wie alle anderen…?
"Finger weg von meiner Airanej im Dorei", sagte Dorea. "Du hast ja deine eigenen."
"Keine so schönen!", lachte Ylsarah. "Wie heißt du?"
"Hannua", antwortete Hannua verlegen. "Ich war mit der Hairi Sahrea mein Instrument auswählen. Dann waren wir knapp dran."
"Aha aha! Verstehe. Für welches Instrument habt ihr euch denn entschieden?"
Ylsarah wirkte aufrichtig neugierig. Sie war nicht so alt wie Dorea, klein und beleibt, hatte kurzes Haar, eine aufrechte Haltung, einen wachen Blick in ihrem runden Gesicht.
Hannua versuchte, sich an den Namen des Instruments zu erinnern.
"Es heißt… glaube ich… Ly… Lysenne oder so? Eine Art Flöte."
"Lyasienne", sagte Ylsarah leise und zog die Brauen hoch. Sie tauschte einen Blick mit Dorea.
"Ja. Das ist es", bestätigte Hannua.
"Interessant", sagte Dorea. "Wie lange ist das her, dass wir eine Lyasiennistin hatten, Ylsarah? Gab es dich da schon?"
"Oh, ich erinnere mich", sagte Ylsarah verträumt. "Ein sehr schönes Instrument. Das sind gute Neuigkeiten. Eine Lyasienne für mein Orchester!"
"Ich… kann noch nicht spielen", sagte Hannua eilig. Es schien ihr wichtig, das deutlich zu machen. "Ich wollte sie nur gerne spielen weil sie sich gut anfühlt."
Ylsarah lächelte. "Keine Sorge. Du hast alle Zeit, die du brauchst. Wird Sahrea dich unterrichten? Weißt du das?"
Hannua nickte, mit einem unguten Gefühl.
Ylsarah zögerte, dann sagte sie: "Sahrea kann etwas schwierig sein. Aber sie ist eine sehr gute Hairi. Sie hat vier verschiedene Instrumente gelernt… oder fünf? Sie kennt alle Spieltechniken und schickt mir Jahr um Jahr fähige Airanej in mein Orchester. Lass dich von unserem Gerede nicht entmutigen. Wir haben unsere Streitigkeiten, aber wir respektieren einander. Respekt ist wichtig."
Hannua nickte wieder. Sie erreichten den Haupteingang. Ihr fiel auf, dass das Windspiel wieder läutete. Dann sah sie Monei und die anderen mit ihren Instrumentenkoffern.
Die alte Frau klopfte Hannua auf den Arm.
"Bis demnächst, Hannua."
"Hab eine schöne erste Zeit!", rief Ylsarah.
Hannua neigte den Kopf, dann eilte sie ihren Gefährtinnen entgegen.
"Monei! Du hast es geschafft!"
"Hannua! Da bist du ja! Oh man. Ich sollte meinen Text wiederholen aber ich musste die ganze Zeit an Iannyce denken. Kannst du mir mit meinem Koffer helfen?"
"Klar."
"Wo warst du denn? Ich hab dich nicht gesehen."
"Auf der Empore bei den Hairi."
Monei starrte sie verblüfft an.
"Wie das denn?"
"Jemand hat mich angesprochen und mich mitgenommen."
"Oh! Du hast Glück. Ich war noch nie da oben."
Hannuas Blick fiel auf Aeryn, die zerstreut ihr Spiegelbild in einer der Kacheln in den Säulen überprüfte und an ihrem Haar herumzupfte. Sie wirkte noch immer etwas durch den Wind.
"Aeryn!", zischte Sirelle, plötzlich, zupfte sie im Ärmel und deutete in die Richtung, aus der Hannua gekommen war.
"Hmh?"
Aeryn sah auf.
"Mit den Gläsern. Das ist er. Hab ich dir doch erzählt!"
Hannua betrachtete die Hairi, die sich allmählich zerstreuten, im Licht der Laternen. Ihr Blick fiel auf die Person mit dem Buch, die sie in der Empore gesehen hatte. Sie unterhielt sich mit einer der Hairi.
"Das ist ein Junge?", fragte Aeryn neugierig.
"Der Airanoju", sagte Sirelle mit einem vielsagenden Blick.
"Der wer?", fragte Monei erstaunt.
"Der Airanoju. Der Sohn Airans. Es ist eine Geschichte", erklärte Sirelle. "Der Sohn Airans lebt unter den Lyriu und beschützt die Abtei."
"Woher weißt du, dass er das ist?", fragte Aeryn.
"Sagen die anderen."
"Hast du ihn mal gefragt?", fragte Monei neugierig.
"Auf keinen Fall!", zischte Sirelle ihr zu. "Frag ihn das bloß nicht!"
Die Airanej und Hairi verteilten sich, während sie über die Brücke, unter den Laternen hindurch, zurück zum Haupthaus schlenderten. Der Wind zerrte an ihrer Kleidung und Hannua fröstelte. Sie schnappte Gespräche über die neuen Airanej auf. Wer ihren Blick kreuzte, der grüßte anerkennend. Hannua wünschte, diese Grüße hätten ihr gegolten. Dass sie sich ihren Platz als Airanej verdient hätte wie die anderen, anstatt im Dorei an ihrer Seite zu gehen und sich zu schämen. Sie verlor sich in Sorge, ob sie jemals die Lyasienne gut genug meistern würde, um ein Vorspiel zu halten. Wenn sie nur ihre Flöte spielen könnte, dann vielleicht…
Dann erinnerte sie sich an das Gefühl der Lyasienne unter ihren Fingern. Sie hatte entschieden, dass sie es versuchen wollte. Und das wollte sie immer noch. Sie musste geduldig sein.
"Warum hat Aeryn geweint?", fragte Hannua, als die beiden außer Hörweite waren.
"Ach. Ich glaube, sie hat sich zu viel Druck gemacht."
"Aber ihr Vorspiel war doch super."
"Du kennst Aeryn nicht. Sie will etwas persönliches ausdrücken und es läuft nicht so, wie sie sich das vorgestellt hat. Dann bringt sie das durcheinander. Hey… da ist Iannyce! Iannyce!!"
Iannyce wartete am Eingang des Haupthauses auf sie und Monei eilte ihr entgegen und warf ihre Arme um sie.
"Wie geht's dir? Was war los?"
"Verpennt", antwortete Iannyce, als Monei sie losließ. "Ich hatte einen komischen Traum."
"Ich wollte dich wecken aber Myriaris hat gesagt, wir sollen dich schlafen lassen!"
"Passt schon. Hab ja nichts wichtiges verpasst."
Ihr Blick fiel auf Hannua. Sie lachte. "Bist du wirklich im Dorei in den Tempel?"
"Immerhin bin ich überhaupt in den Tempel", erwiderte Hannua ärgerlich.
Iannyce lachte und legte in gespielter Anerkennung die Hände aneinander. "Coole Aktion. Warum bin ich nie auf die Idee gekommen?"
"Ach lass sie in Ruhe", wies Monei sie zurecht. Sie machten sich auf den Weg zu ihrer Kammer.
"Wie ist es denn gelaufen?", fragte Iannyce.
"Ach. Mein Vorspiel war nicht gut", tat Monei ab. "Die anderen waren natürlich super. Aber wir haben es alle geschafft."
"Glückwunsch", sagte Iannyce. "Dann bist du jetzt sowas wie eine erstklassige Airanej? Wie Aeryn?"
"Frechdachs", sagte Monei und piekste sie in die Seite.
"Die neuen Nej kommt her!"
Verblüfft blieben die drei stehen und sahen sich um, woher die kratzige Stimme gekommen war. Sie hatten die Treppe erreicht. Über ihnen stand eine kleine Person in der Mitte der Treppe und winkte ihnen mit einem Zweig. Sie sah recht merkwürdig aus - gedrungene Statur, langes, drahtiges, graues Haar, zu vielen wirren Zöpfen geflochten, ein sehr faltiges Gesicht mit einer Knollennase. Bei ihrem Mantel schien es sich um etwas zu handeln, was einst auf vier Beinen umhergesprungen war.
"Kommt!"
Sie winkte Aeryn und Sirelle heran, die hinter ihnen eintraten. Dann deutete sie mit dem Zweig an die Wand hinter sich. Dort hing eine große Tafel mit einer zweiteiligen Tabelle. Hannua konnte die Überschriften Lichtwochen und Nachtwochen erkennen, wie auf ihrem Stündenplan.
"Ich bin Brodwydd", fuhr die kleine Figur fort. "Ich sorge für dass alle Arbeit in der Abtei erledigt wird. Dass wir Essen haben und dass alles heil und reinlich ist. Alle Nej helfen bei der Arbeit. Dafür bekommt ihr Punkte. Es ist plus minus zwei Stünden Arbeit jede Woche. Hier seht ihr die verschiedendliche Arbeit die wir haben." Sie deutete auf die linke Spalte der Tabelle.
"… die Zahl der Nej die wir brauchen. Und die Punkte. Da tragt ihr euch ein. Daneben das ist die Zeit. Weiter, hier tragen sich dann große Nej ein die euch führen. Wenn ihr schlampiglich arbeitet gibt es weniger Punkte. Ihr sucht aus und tragt euch ein. Die Arbeit ohne Eintrag bekommen die Nej mit wenig Punkten. So läuft es. Ihr beginnt in den Lichtwochen. Fragen?"
Die Airanej starrten einander verdutzt an.
"Äh", begann Monei zögerlich. "Wie tragen wir uns denn ein? Es ist ziemlich… hoch."
"Gut gefragt. Wie heißt du?"
"Monei."
Brodwydd wandte sich zur Tafel.
"Pao - Nej Monei zu Garten", ordnete sie an.
Alle starrten zur Tafel. Nichts geschah. Hannua fiel eine Figur unter der Tafel ins Auge - es war der Kopf eines Vogels, der aus der Wand ragte, mit einem großen Schnabel und zwei Edelsteinen als Augen. Er sah gruslig aus.
"Keine Faxen Pao!", rief Brodwydd mit drohender Stimme. "Ich trage ein wen ich will! Ach. Warte."
Sie fummelte in ihrem Mantel herum und holte etwas hervor. Ein kleines Stück Kreide. Sie drückte es Monei in die Hand.
"Du bist groß. In den Schnabel legen."
Monei sah empor zu dem Vogelkopf über ihr. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und schob die Kreide vorsichtig in den geöffneten Schnabel. Hannua erschrak, als der Schnabel sich plötzlich schloss. Sie hörte ein ungesundes, malmendes Geräusch. Einen Moment später glaubte sie, zu sehen, wie die Edelsteinaugen kurz aufleuchteten. Dann, mit einem leisen Schleifen, schrieb sich Moneis Name auf die Tafel, wie geführt von unsichtbarer Hand.
"Alles klar?", fragte Brodwydd.
Die Airanej nickten perplex.
"Oh. Bevor ich vergesse Pao Übung Lesen Schreiben Zweittag Nachmittag Stünde Fünf Bibio Thek."
Die Tafel erstellte die geforderte Notiz neben der Tabelle.
"Das ist für die das schwieriglich finden. Damit ihr im Unterricht gut mitmachen könnt", erklärte Brodwydd.
"Mehr Fragen? Nein? Gut. Ich lass euch die Tafel. Ich sehe euch bald."
Dann wackelte sie hinaus.
Die Airanej drängten sich um den Plan, um zu sehen, welche Aufgaben auf sie warteten.
"Küche? Garten? Wäsche!? Ist das ihr Ernst?", fragte Sirelle. Sie klang einigermaßen schockiert.
"Wusstest du, dass wir arbeiten müssen, Aeri? Ist das neu?"
Aeryn schüttelte den Kopf. "Keine Ahnung. Die Zeit könnte ich besser nutzen, um auf der Cynne zu üben."
"Ach was, die beiden Prinzessinnen sind sich zu fein dafür?", fauchte Iannyce. "Aber essen könnt ihr oder was?"
Die beiden sahen sie verdutzt an. Sie war einen Kopf kleiner als die beiden.
"Wer soll sich denn um euer Essen und euren Dreck kümmern?", fuhr sie fort. "Euer Kindermädchen?"
"Komm, Sirelle. Gehen wir."
Sirelle nickte. "Ich schreibe meinem Vater. Er soll Ide schicken."
"Ja, soll sich doch jemand anderes die Hände schmutzig machen! Ich spiele lieber den ganzen Tag auf der weiß-ich-nicht-was!", äffte Iannyce sie nach.
Monei packte sie am Arm. " Iannyce… das reicht. Ist doch ihre Sache."
"Das ist nicht ihre Sache, wenn sie sich für was besseres halten. Oder, Hannua?", fragte sie.
"Oder hast du auch ein Problem damit, bei der Arbeit zu helfen?"
"Nein", antwortete Hannua.
"Siehst du, Monei? Hannua ist in Ordnung. Aber diese beiden…"
Sie warf ihnen einen wütenden Blick hinterher.
"Sie können nichts dafür", sagte eine leise Stimme neben ihnen. Celyne, die Airanej mit der weißen Flöte, war dazugekommen. "In ihren Familien kümmern sich andere um die Hausarbeit. Sie haben einfach… noch nicht so richtig verstanden, dass sich die Dinge nicht von selbst erledigen."
"Dann wird's Zeit!", entgegnete Iannyce wütend. "Seit ich hier bin, behandeln sie uns von oben herab. Ich hab's satt!"
"Das braucht einfach Zeit", sagte Celyne. "Zu sehen, dass Dinge hier anders sind als zuhause."
"Celyne hat Recht, Iannyce. Hab etwas Geduld mit ihnen. Vielleicht kommen sie von selber auf den Trichter. Komm, schaun wir lieber, ob wir was für dich finden."
"Ja, stimmt. Wäre lustig, wenn die beiden am Ende den Faller putzen, weil sie sich zu fein für die Küche waren", feixte Iannyce.
Celyne räusperte sich.
"Pao - Celyne zur Küche", sagte sie dann.
Gehorsam schrieb die Tafel ihren Namen in das passende Feld.
"Komm mach bei mir mit", schlug Monei vor. "Sie hat mich zum Garten eingetragen. Klingt ja nicht so schlecht."
"Ja warum nicht… Pao… Iannyce zum Garten!"
Hannua trat näher heran, um besser lesen zu können. Die Tafel hatte einen Haken an das Gartenfeld gemacht. Zwei Airanej waren offenbar genug. Also musste sie etwas anderes finden. Sie hörte Stimmen im Gang - offenbar waren die älteren Airanej auf dem Weg.
"Pao… Hannua zur Küche", entschied sie eilig. Sie vergewisserte sich, dass die Tafel ihren Namen eintrug. Dann folgte sie den anderen in ihre Kammer.